Editorial

Was tun wir eigentlich, wenn wir Rechtsgeschichtswissenschaft betreiben? Diese Frage ist meist im Krisenmodus gestellt und sehr unterschiedlich beantwortet worden. Fast immer waren es Bekenntnisse. Nur im Blick auf die wirklich großen Vertreter des Faches ist sie historisiert, fast nie in einer vergleichenden Perspektive beantwortet worden. Joachim Rückert hat sich daran versucht: Sein Beitrag zur Erfindung nationaler Rechtsgeschichten in Europa ist ein besonders wichtiger Überblick, der nicht nur der deutschen Rechtsgeschichtswissenschaft bei der Reflexion ihrer Arbeit helfen dürfte. Er fügt sich in eine Reihe von Beiträgen, die in den letzten Jahren in dieser Zeitschrift zu Fragen der Methode rechtshistorischer Forschung publiziert worden sind und in unserem Forschungsfeld »Rechtshistoriographie« diskutiert werden.

Welche Bilder unsere Rechtsgeschichten erzeugen, welche Erzählungen sie hervorbringen, zeigt auch der zweite Beitrag in unserem Recherche-Teil: Der taiwanesische Rechtshistoriker Tay-sheng Wang gibt in ihm einen Überblick über Perspektiven auf die Rechtsgeschichte Taiwans. Wenn er die intensiven Verflechtungen zwischen kontinentaleuropäischer und chinesischer Rechtsgeschichte nachzeichnet und zugleich die Eigenständigkeit der Rechtsentwicklung in Taiwan betont, dann lesen wir darin zugleich ein Dokument der Reflexion über die geltende Rechtsordnung in Taiwan.

Nicht ein Themenschwerpunkt, sondern gleich drei Foci folgen. Alle drei kreisen um die iberischen Monarchien in ihrer historisch wechselvollen räumlichen Dimension. Aus einer Kooperation mit drei anderen Max-Planck-Instituten – Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, ethnologische Forschung – und einem US-amerikanischen Kollegen, David Nirenberg, sind die Beiträge im Fokus »Convivencias« hervorgegangen. In ihnen stehen rechtshistorische Perspektiven auf das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Konfessionen im Mittelpunkt. Der Begriff der »convivencia« ist in den letzten Jahren wieder in Mode gekommen, spricht er doch nicht selten irenisch verklärte Vorstellungen des friedlichen Zusammenlebens an, die heute in plurinationalen und pluriethnischen lateinamerikanischen Verfassungsexperimenten ihren Ausdruck finden, aber auch in Europa und an anderen Orten Hoffnungen auslösen, dass multiethnische und multireligiöse Gesellschaften funktionieren können. Historisch wird er vor allem mit der hochmittelalterlichen iberischen Halbinsel verbunden; im 19. Jahrhundert wurde er in sehr vielfältiger Weise in den Dienst neuer imperialer Erzählungen gestellt. Wir haben Beiträge zur Geschichte der Regelung des Zusammenlebens von Angehörigen unterschiedlicher Religionen in der islamischen und katholischen Tradition, zum Weiterwirken dieser rechtlichen Kategorien in der frühen Neuzeit und schließlich zur Kontextualisierung der Debatte in der spanischen Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zusammengestellt.

Der zweite Fokus liegt ebenfalls auf dem iberischen Raum, und wieder geht es um den ›Anderen‹: Hier steht die Schule von Salamanca im Mittelpunkt, das intellektuelle Zentrum der katholischen frühneuzeitlichen Scholastik und die Debatten über »The Men of the New World«. Von der in diesem Jahr ihren 800. Geburtstag feiernden Universität Salamanca, einer der ältesten Europas, gingen bekanntlich wichtige Impulse für das Rechtsdenken aus – bis in die Aufklärungszeit und auch in die protestantische Welt hinein. Nur langsam und in jüngerer Zeit wird diese Schule von Salamanca stärker in ihren europäischen und globalen Kontext eingebettet. Auf diese Weise werden manche Anfänge der Schule deutlich, die noch vor der als Anfang von allem stilisierten Ankunft des Francisco de Vitoria in Salamanca 1526 liegen. Drei Beiträge, die im Rahmen und im Umfeld der an der Goethe-Universität Frankfurt und am Max-Planck-Institut betriebenen Forschungen zur Schule von Salamanca verfasst worden sind, werfen ein neues Licht auf lange Zeit nur wenig beachtete Autoren und Texte.

Nicht selten wird das Nachdenken über die Ordnung der neuen Welt als das geradezu identitätsstiftende Merkmal der Schule von Salamanca bezeichnet. In Salamanca wurde über die Rechtfertigung der europäischen Expansion diskutiert, mit allen Ambivalenzen, die in der jüngeren völkerrechtsgeschichtlichen Diskussion immer wieder hervorgehoben werden. Aber auch die iberischen Imperien waren nicht für die Ewigkeit gemacht. | Doch wann waren sie eigentlich zu Ende? Dieser Frage sind wir im November 2017 auf einer Tagung zum »Ende von Imperien« nachgegangen, auch hier in institutioneller Kooperation mit der Goethe-Universität und Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland. Der Blick auf das Ende ist zugleich die Frage nach dem Anfang der Nationalstaaten, und es dürften nicht zuletzt rechtliche Diskurse, Institutionen und juridische Praktiken sein, mit denen diese Übergangsperioden gestaltet werden. Es ist die juristisch-politische Sprache, in der die alte und die neue Welt verstanden und verhandelt wurden. Umso erstaunlicher, dass die rechtliche Dimension in der allgemeinen Imperiengeschichte nur wenig Beachtung findet – genauso wenig wie die iberischen Imperien und überhaupt die frühneuzeitlichen politischen Formationen. Vielleicht können die vier Beiträge, zwei zum spanischen Imperium, einer zum brasilianischen Kaiserreich, einer zum Osmanischen Reich, rechtshistorische Perspektiven und das vergleichende Potenzial rechtshistorischer Analyse vor Augen führen, ganz jenseits der »Is it or isn’t it«-Debatten, die in der Imperienforschung so großen Raum einnehmen.

Auch im wieder sehr umfangreichen Kritik-Teil finden sich nicht wenige Arbeiten aus dem Umfeld der Rechtsgeschichte der iberischen Imperien, der Regulierung von Diversität durch Recht, zu »convivencias«, wie gewohnt in sprachlicher Vielfalt. Die Marginalie wirft ein Schlaglicht auf einen territorial kleinen und wahrscheinlich vergleichsweise wenig bekannten Fall der Überlagerung verschiedener Rechtsordnungen: auf Helgoland. Die Bildstrecke schließlich stammt aus der Kooperation mit dem Florentiner Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte. Die Abbildungen veranschaulichen Hybridisierungen, wie sie sich nicht zuletzt durch »convivencias« materialisiert haben. Die beiden Kunsthistorikerinnen, die diese Auswahl zusammengestellt haben, erläutern dies in ihrem Beitrag, der Teil des Fokus »Convivencias« ist. Sie führen uns mit den Bildern vor Augen, was vielleicht – um an den Anfang des Hefts zurückzukommen – auch eine der größten Herausforderungen für die heutige Rechtshistoriographie ist: die nicht zuletzt durch postmoderne Theorie, »global studies« und die Transnationalisierung der akademischen Kommunikation zu beobachtende Infragestellung des Objekts (»Kunst«, »Recht«), grundlegender räumlicher Kategorien (national, europäisch, global) und disziplinärer Grenzen unserer Arbeit.

Am Schluss sei noch ein Hinweis in eigener Sache erlaubt. Dieser Band der Rechtsgeschichte – Legal History wird der letzte sein, den Karl-Heinz Lingens als Leiter der Redaktion betreut. Ab dem Jahr 2019 wird er im Ruhestand sein. Ohne ihn hätten die Publikationen des Instituts – die Schriftenreihen, die Zeitschriften – anders ausgesehen. Ich habe keine Autorin und keinen Autor getroffen, die oder der sich von ihm nicht hervorragend betreut gefühlt hätte. Dutzende von Danksagungen in Vorworten zeugen davon. Ihnen möchte ich hier nun eine weitere zur Seite stellen – in seiner Rechtsgeschichte.

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